In einem Sozialstaat ist es anscheinend systemimmanent, dass die Mehrheit der Menschen, weil sie doch (im Vergleich zu Völkern anderen Staaten, die einer von materieller Unsicherheit geprägten sozialen Ordnung unterworfen sind) im relativen Luxus leben, nicht mehr so intensiv den Wunsch aufzubegehren verspüren und, offensichtlich aus Angst das zu verlieren, was sie glauben zu „haben“, bereit sind offensichtliche soziale Ungerechtigkeiten zu akzeptieren, solange sie selbst in der eigenen Komfortzone „nicht direkt betroffen sind“.
„Nicht direkt betroffen“ zu sein bedeutet hier, dass alles, was nicht unmittelbar im eigenen Geldbeutel als direkter subjektiver Verlust wahrgenommen werden kann, kann und wird auch willentlich ausgeblendet. „Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten“ ist das Hauptverhaltensmuster, das das „komfortable Leben“ (la dolce vita) bestimmt, solange dieses Leben auch relativ unbekümmert stattfinden kann.
Jedoch: Ist das „unbekümmert leben“ allein das Ziel einer sozial entwickelte Gesellschaft? In der heutig (mit wenigen Ausnahmen) etablierten Gesellschaft ist das unausgesprochene Ziel eines jeden „zivilisierten“ Menschen irgendwann irgendwie „ausgesorgt“ zu haben. Das ist das Bild was uns allen durch mehr oder minder kontrollierte Informationsmedien vermittelt wird: vom Tellerwäscher zum Millionär durch ein „gutes Geschäft“ egal womit, in Lotterie Millionen gewinnen und sich eine Insel im Pazifik kaufen, einen „Hit“ gelangen der sich millionenfach „verkaufen“ lässt, ein „Star“ welche Art auch immer werden – egal wie, jedoch je schneller – desto besser, so viel „Geld haben“ wie nur möglich und dann dieses „für sich arbeiten lassen“.
Das möchte in der bescheidenere Variante bedeuten, nie wieder für den eigenen Lebensunterhalt etwas tun zu müssen, sondern endlich in materieller Sicherheit zu leben und sich sorgenfrei und entspannt den eigenen Wünschen und Vorstellungen, den eigenen Zielen und letztendlich der persönlichen Weiterentwicklung widmen zu können.
In der „elitären“ Variante des liberalisierten Marktes bedeutet dies allerdings auch, dafür alles – und hier ist wirklich alles, ohne jeglicher Rücksicht gemeint – zu tun, um nie wieder für ein Leben des nach Belieben Konsumierens selbst etwas tun oder leisten zu müssen. Das deklarierte (und wenn notwendig mit allen Mitteln verfolgte) Ziel ist hier nicht, nach einer Zeit des selbstverpflichtenden Leistens für die soziale Gemeinschaft, die Früchte des eigen Geleistetes als Rückleistung der Gesellschaft an das Individuum zu genießen, sondern möglichst nichts leistend direkt in den Genuss einer meist übertriebenen und natürlich nicht gerechtfertigten materiellen (und Macht) Fülle zu kommen. Der Mensch, der zu dieser „Wirtschafts- und Finanz-Elite“ gehören möchte, empfindet sich als in einer sozialen Hierarchie „Höhergestellter“, wenn er, egal mit welchen Mitteln, den wirtschaftlich-finanziellen „Erfolg“ erlangt und findet es gleicher Maßen auch „gerechtfertigt“ diesen dann, egal mit welchen Mitteln, gegen alle anderen Menschen zu verteidigen – denn, wie er es vermutlich empfindet, er hat sein „Erfolg“ allein sich selbst zu verdanken. Ein Verhalten, das, meinem Gefühl nach, auf eine pathologisch egozentrische Kurzsichtigkeit hinweist und zum unausweichlichen Erodieren des sozialen Gefüge führt.
Beide Varianten vergessen dabei einen, nach meiner Ansicht, sehr wichtigen Aspekt: der Mensch liebt es zu arbeiten, wenn er selbst sich dafür entscheiden und seine Arbeit in die Realisierung von Projekte investieren kann, die für ihn persönlich wichtig sind – das bedeutet in Projekte mit deren Realisierung der Mensch auch zur seinen eigenen Selbstverwirklichung beiträgt und die dadurch im Einklang mit seinem inneren Wesen sind. Jeder Mensch träumt in seinem Traum vom „Aussorgen“ lediglich von der Zeit in der er das tun kann, was er möchte und zwar wann, wie und mit wem er es wirklich möchte. Das heute gelebte soziale Gefüge lässt das nicht mal für die privilegierte Finanz-Elite wirklich zu – denn das Rad des Markt-Wirtschaften kennt keine Ruhezeit.
Die Frage, die ich mir in diesem Kontext stelle, ist: Kann der materielle Druck (also der Druck eines künstlich erzeugten Kampfes um Mittel zum „Überleben“) überhaupt als Antrieb für eine integrative soziale Weiterentwicklung der Menschen von einzelnen Individuen (in diesem Fall in hartem – jedoch nicht notwendigen – Wettbewerb mit einander) zu einer Menschheit von Individuen die bewusst gemeinsam leben dienen?
Einer der meist vorgebrachten Argumente gegen das Ersetzen einer Markt-Wirtschaft mit einer Bedarfs-Wirtschaft ist, dass der materielle Druck der durch den Markt-Wettbewerb entsteht (d. h. der Druck stets „neue Produkte“ anzubieten die sich „besser verkaufen lassen“ und so für die eigene materielle Sicherheit zu sorgen), der (bisher) einzige Motor für die technologische/materielle Entwicklung gewesen ist. Der materielle Druck wäre dadurch implizit auch für den bisher erreichten „Wohlstand“ (zumindest einer privilegierten Minderheit der Menschen) verantwortlich und hätte die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Es soll heißen, dass wir (Menschen) „nichts“ von dem erreicht hätten, das heute unser Leben erleichtert, wenn wir nicht die ganze Zeit bestrebt gewesen wären uns, und zwar jeder für sich, einen Markt- (und Macht)Vorteil zu verschaffen und versucht hätten wirtschaftlich im finanziellen Sinne erfolgreich zu sein. Anscheinend ist in der bisherigen Menschheitserinnerung die Erfahrung, dass materielles „Reichtum“ und „Geld“ „alles“ möglich (M)acht, als die bedeutendste Erfahrung betrachtet.
Die Auslegung in der Bedürfnispyramide nach Maslow liefert in diesem Sinne eine mögliche Erklärung, warum es logisch ist und so sein kann, dass der Mensch vor allem für sich selbst zu sorgen vermag. Maslow fand heraus, dass erst nach dem der Mensch seine primäre Bedürfnisse nach körperlichem und materiellem Wohlstand befriedigt hat, nach dem er sich in einer gewissen Sicherheit wähnt, erst dann hat er die Ruhe sich sein soziales Leben kritisch anzuschauen und sich Gedanken darüber zu machen, wie ein gemeinsames Leben in Frieden aussehen könnte. Erst wenn der Überlebensdrang geebbt ist, kann der Mensch seinen so erkannten Überfluss freiwillig mit anderen Menschen teilen und anderen Menschen seinen ehrlichen Respekt und seine Wertschätzung frei zeigen. Erst wenn er sein soziales Gefüge als unterstützend empfindet, kann er sich sorgenfrei seiner persönlichen und dadurch implizit auch seiner sozialen Weiterentwicklung widmen.
Es scheint allerdings heute auch so zu sein, dass wir (Menschen) bisher für unser Überleben bereits alles getan haben, was in unseren Augen notwendig war und in unserer Macht stand: wir überbevölkern gerade unseren kleinen Planeten und nichts und niemand kann unsere Vorherrschaft in Frage stellen. Ich meine, außer uns selbst – denn der Mensch ist des Menschen gefährlichsten und erbarmungslosesten Feind und Zerstörer. Wir haben uns in den letzten Jahrtausende ein beachtliches technologisches Wissen angeeignet und sind gerade dabei weit über das Überlebensziel hinaus zu schießen – wir haben die Möglichkeit uns Wohlstand zu sichern und doch bestehen wir darauf, auf der materiellen Stufe der maslowschen Pyramide zu verweilen und verweigern uns hartnäckig unsere eigene Weiterentwicklung. Warum eigentlich?
Warum sind wir noch nicht im Stande zu (oder wollen?) erkennen, dass das einzige, das auf den oberen Stufen der maslowschen Pyramide als Antriebsfaktor für die Weiterentwicklung bleibt, die Entwicklung des Bewusstseinsgrades des Einzelnen ist – nur so, aus dem Wunsch des Einzelnen in einer gerechten Welt zu leben, in der alle Wesen als gleichberechtigt angesehen und empfunden werden, kann auch eine Veränderung des bestehenden Sozialsystems herbeigeführt werden – Sozialsystem in dem, nach meiner Ansicht, die Mehrheit der Menschen sich nicht wohl fühlen. Ist vielleicht daran sogar der von uns erschaffene Sozialstaatsystem mit verantwortlich? Tun wir uns so schwer mit einer weiteren notwendigen Veränderung, weil wir aus Bequemlichkeit und Kurzsicht unseren sicheren „Logen-Sessel“ für ein neues Leben in diesmal gemeinsamer sozialer Bewegung nicht verlassen wollen? Warum sehen wir das Gute, was wir jetzt haben, noch nicht als Vorstufe für etwas Besseres, was wir noch zu erreichen vermögen, sollten wir (Menschen) uns nur dafür entscheiden?
In meinem Empfinden erweist sich, in diesem Zusammenhang und auf langer Sicht, das Markt-Wettbewerbs-Prinzip als einzige Antrieb für die Weiterentwicklung als überholt und wird zum Hemmnis – denn, wenn die unteren Bedürfnis-Stufen erklommen sind (d.h. eine gewisse materielle „Sicherheit“ und einen subjektiv empfundenen Wohlstand durchgehend in einem Großteil der Welt erlebt werden), wird das Streben nach Materiellem und dadurch nach Macht und Kontrolle für die daran teilnehmenden Menschen zunehmend unwichtig und als das Hindernis erkannt, das beim Weitergehen eher behindert als anzutreiben.
Gleichwohl kann auch die Sichtweise des Einzelnen dadurch maßgeblich beeinflusst werden: In meiner Erfahrung erweitert sich der Horizont direkt proportional mit dem Bewusstheitsniveau, das im täglichen Leben tatsächlich gelebt wird, und so wird in natürlicher Weise auch die Rücksicht auf die Menschen neben uns und auf die Generationen die nach uns noch kommen als notwendig empfunden und gelebt. Das heißt natürlich: Wenn wir Menschen uns dazu bewusst entscheiden, diese uns sehr persönliche Transformation und Weiterentwicklung zuzulassen.
In letzter Instanz kann auch der aktuell auf Basis der Markt-Wirtschaft definierte Sozialstaat nur als eine Zwischenstufe auf dem Weg der sozialen Entwicklung betrachtet werden – der Einzelne Individuum würde, nach meiner Ansicht, als Zelle der Gesellschaft, in der Gemeinschaft seine Individualität nicht verlieren, sondern sie mit der Bewusstheit der unabdingbaren Vernetzung mit und gegenseitigen Abhängigkeit von allem Anderen auf diesem Planeten erweitern und so sich als bewusster Teil eines viel größeren Ganzen erkennen.
Die Frage dazu ist: Sind wir Menschen soweit, die nächste Stufe der Evolution zu erklimmen?